Für die Ostsachsen bis hin zum Dresdner Raum sind das Riesengebirge und das Isergebirge im Tschechischen beliebte Ferienziele. Bereits nach 2 bis 3 h Autofahrt ist man vor Ort. Neben den gebirgstypischen Sensationen ist auch ein erfreulich günstiges Preisniveau vorzufinden.
Diese Vorzüge werden des öfteren für ein verlängertes
Wochenende in diesem Gebiet genutzt. Mittlerweile haben wir dort auch gute
Freunde unter der eingeborenen Bevölkerung gefunden.
Bereits seit einiger Zeit stand dabei auch der Gedanke im Raum die Anfahrt
mit dem Auto wegfallen zu lassen und zu Fuß von Neustadt/Sachsen
auf die Schneekoppe zu laufen. Schließlich fand sich ein interessierter
Teilnehmerkreis zusammen. Alle, die mitkommen wollten, besaßen zwar
einige Übung in solchen Aktionen, sind jedoch keineswegs dem Bereich
des Spitzensportes zuzurechnen. Beim Entschluß mitzulaufen, spielte
vielmehr bei nicht wenigen die Vorliebe für das tschechische Bier
eine gewisse Rolle .....
Schließlich konnten sich im Spätsommer `98 fünf Leute
die für die Aktion veranschlagte Woche frei nehmen. Wie sich herausstellen
wird, ist das schon fast das Minimum um die Tour überhaupt zu schaffen.
Jedenfalls führt der so knapp gesetzte Zeitrahmen dazu, daß
der sportliche Aspekt nennenswerte Ausmaße annimmt. Doch genug der
Vorrede, beginnen wir mit dem Bericht:
Sonntag, den 30.August 1998
Neustadt / Sachsen - Kyov - 25 km
Beginn der Schneekoppen-Expedition ist Hendrik Voigts Kultkneipe Purple
Haze, die sich im Stadtbad von Neustadt/Sachsen befindet. Kurz nach 12:00
Uhr treffen sich dort drei der handelnden Personen für den Start.
Carsten und Hops (d.Verf.) waren am Samstag beim Bischofswerdaer Open-Air,
wo ein ziemliches Metal-Brett gefahren wurde und wo traditionell auch immer
etwas Alkohol im Spiel ist. Specki nahm am Vorabend an einer Party bei
einem Kumpel in Freiberg teil. Wir haben alle drei etwa die gleichen Symptome
und sind noch etwas mitgenommen. An Durst löschen ist nicht zu denken.
Es ist ziemlich kühl und ohne Badegäste hat auch das Purple Haze
noch geschlossen. Ohne Verzögerungen machen wir uns also auf den Weg.
Der Weg führt uns über die Kirschallee und Dörings Berg
nach Rugiswalde und Sebnitz. Diese ersten Kilometer vergehen wie im Fluge,
denn durch die vorangegenenen Veranstaltungen ist genügend Gesprächsstoff
vorhandenen. An den Feldwegen wachsen wilde Apfelbäume. Die Äpfel
schmecken zwar ziemlich sauer, sind jedoch gegen den fiesen Geschmack im
Mund genau richtig.
In Sebnitz beginnt am Urzeit-Park der Aufstieg auf die erste nennenswerte
Erhebung der Tour. Der Tanzplan liegt bereits auf tschechischer Seite und
will mit seinen 596 m Höhe erst einmal bezwungen sein. Jetzt, am Beginn
der Tour, sind die Glieder noch kalt und wir kommen völlig fertig
oben am Gasthaus an.
Bierzeit !
Neben dem köstlichen Bier bestellen wir uns noch Tintenfisch zum
Mittag (mittlerweile ist es 15 Uhr). Das Zeug ist in lustige Streifen geschnitten
und sieht ziemlich künstlich aus. Der Geschmack ist steril und es
ist auch etwas zäh. Insgesamt kann man das Essen mit seltsam bezeichnen.
Leuten, die gerne "mal was anderes" essen, sei es hiermit empfohlen.
Nachdem wir einigermaßen gestärkt sind, gehen wir das Tagesziel
an: Kyov. Wir wollen am dortigen Badeteich übernachten, nicht zuletzt,
weil ein sich dort befindlicher Kiosk eine angemessene Frühstücksversorgung
verspricht.
Liegt es am tschechischen Mittags-Bier oder an unserer naturgegebenen
Unbedarftheit, jedenfalls verfranzen uns nach den ersten Kilometern. Als
wir ein verlassenes Feriencamp erreichen, sind wir sicher: hier sind wir
verkehrt. Also den halben Weg zurück - wir tragen es mit Humor.
Die nächste Pfadfinderaufgabe ist da schon schwieriger. Auf unserer
Wanderkarte ist ein schnurgerader Weg eingezeichnet, der quasi in Luftlinie
Richtung Kyov verläuft und somit die kürzeste Verbindung zu sein
scheint. Leider entpuppt sich dieser Weg als ein Scherz des Kartographen.
Er existiert nicht.
Wir nehmen die vorhandenen Wege, die Richtung Kyov verlaufen und kürzen
schließlich am Weißbach (bily potok) entlang ins Khaa-Tal ab.
Das Weißbachtal ist ziemlich abgelegen und kaum begangen. Der Weg
am Bach entlang ist ein richtiger Schmugglerpfad. Die wildromantische Felslandschaft
und der urige Wald könnten schon beeindrucken. Da es aber schon langsam
spät wird, haben wir kaum einen Blick dafür übrig. Starren
Blickes nach vorn stapfen wir am Bach entlang und wollen das Khaa-Tal erreichen.
Als wir endlich dort ankommen, beginnt es zu dämmern.
Das letzte Stück nach Kyov geht es nun auf einer geteerten Straße
das Khaa-Tal entlang, auf der wir Kilometer schruppen.
Als wir den Ort fast erreicht haben, ist es beinahe dunkel. Plötzlich
hören wir Stimmen, und bald darauf kommen uns vier Gestalten entgegen,
die aus Richtung Kyov kommen. Wir rätseln, wo die Leute wohl hin wollen.
Der nächste Ort in dieser Richtung ist Hinterhermsdorf. Gut zwei Stunden
Fußweg durch stockdunklen Wald zurückzulegen, erfordert im Elbsandsteingebirge
schon etwas Mut.
Schnell merken wir, daß die vier sich in der Kyover Schenke Mut
angetrunken haben müssen. Sie sind, na sagen wir mal - beschwingt.
Ungleichmäßigkeiten im Gang werden durch kameradschaftliches
gegenseitiges Stützen abgefangen, Holprigkeiten in der Aussprache
werden geflissentlich ignoriert. Die Jungs sind blitzeblau.
Als sie uns gegenüber stehen, erkennen wir in einem der Experten
einen aus Presse und Fernsehen allseits bekannten sächsischen Bergsteiger.
Das führt uns wieder einmal den engen Zusammenhang von Bergsteigern
und Bier plastisch vor Augen (fängt beides mit "B" an). Aus Gründen
der Pietät will ich aber an dieser Stelle seine Identität nicht
preisgeben.
Beim üblichen Hallo!-Woher?-Wohin? gibt Specki zum Besten, daß
wir uns auf dem Weg zur Schneekoppe befinden. Das glauben sie uns nicht.
Oder sie glauben bereits an Hörstörungen zu leiden. Wer weis,
jedenfalls wenden sich die vier von uns ab und mit einem Gang, der die
menschliche Würde unterstreicht, ziehen Sie von dannen...
Zehn Minuten später sind wir im Ort und es ist vollständig
dunkel. Der Kiosk am Teich hat bereits geschlossen, und so machen wir es
den vier Wandersmännern nach und gehen in die Schenke. Mit uns sitzen
noch ein paar gemütliche Tschechen im Gastraum. Deren Körperfülle
verheißt uns, daß das Essen hier wohl schmecken muß.
So ist es dann auch.
Während wir Abendbrot essen, fängt es draußen an zu
regnen. Der Plan am See zu übernachten wird schnell fallen gelassen.
Die Bushaltestelle bietet zwar ein trockenes Dach, jedoch ist sie für
drei Mann ziemlich eng und früh vor dem Aufstehen fährt bereits
der erste Schichtbus.
Bleibt noch ein Camp auf dem Hang oberhalb der Kneipe, wo wir eine trockene
Unterkunft finden könnten. Carsten und ich steppen noch einmal los,
um die dortigen Möglichkeiten zu erkunden. Wie wir uns vom Tisch erheben,
merken wir bereits die zurückgelegten Kilometer in den Knochen. Vom
Sitzen sind unsere Glieder steif geworden und schmerzen (also ich meine
die Beine). Wir tappen einen dunklen Feldweg den Hang nach oben, bemüht
nicht zu stolpern oder bereits vorhandene Blasen an den Füßen
zu reizen. Unsere Gangart dürfte etwa der von den vier Wandersleuten
im Khaa-Tal entsprechen.
Wir finden im Camp jedenfalls nichts Offenes vor. Auf die einfachste
Möglichkeit kommen wir zuletzt. Wir fragen im Wirtshaus nach einer
Unterkunft und bekommen ein Zimmer zu einem fairen Preis.
Mit der Gewißheit an diesem Tag keine weiteren Wege mehr zurücklegen
zu müssen, gleichen wir den am Tage erlittenen Flüssigkeitsverlust
mit Bier aus und fallen ins Bett. Aus unseren Wanderstiefeln strömt
dezent ein Duft von Männerfüßen ...
Montag, den 31. August 1998
Kyov - Krompach - 35 km
Die Übernachtung ist mit Frühstück. Gestärkt und
mit einigermaßen frischen Kräften versehen, gehen wir die zweite
Etappe an. Tagesziel ist Krompach, ein Nest südlich des Zittauer Gebirges.
Dort wollen Charly und Roger, die beiden restlichen Teilnehmer der Unternehmung,
zu uns stoßen.
Charly mußte noch in einem Ferienlager einen Betreuerjob zu Ende
bringen und auch Roger konnte arbeitstechnisch erst ab Montag Abend an
der Tour teilnehmen.
Keiner von uns war jemals in Krompach gewesen, so haben wir uns praktischerweise
in der Kneipe neben der Kirche verabredet. Das dürfte von allen zu
finden sein. Bekanntlich gibt es in jedem tschechischen Dorf eine Kirche
und selbstverständlich befindet sich neben jeder tschechischen Kirche
eine Kneipe (wo sonst sollten die tschechischen Menschen nach dem Gottesdienst
den Sonntag verbringen). Ein Problem haben wir nur, wenn es in Krompach
mehrere Kirchen geben sollte. Aber soweit sind wir noch nicht.
Unser Weg in Kyov beginnt gegen 7:00 Uhr mit einem prächtigen Anstieg,
der den Körper auf Betriebstemperatur bringt. Dazu fällt eine
Mischung aus Nieselregen und dichtem Nebel vom Himmel - angenehm. Es geht
über Wiesen und Felder.
Unversehens geraten wir dabei auf eine Rinderweide. Die Viecher sind
auch gerade erst beim Aufstehen. Nach menschlichem Ermessen ist kein Bulle
darunter zu entdecken. Kurz bevor wir die Weide durchquert haben, liegen
uns dann zwei Exemplare im Weg. Ringsum ist knöcheltiefer Schlamm
und ich bin im Geiste schon damit beschäftigt, den günstigsten
Ausweich- und evtl. auch Fluchtweg zu finden. Denn was da vor uns liegt
ist Mutter und Sohn. Sohn würde ich dabei nichtmehr als Kälbchen
bezeichnen, er ist schon eher ein Kalb. Wir kommen so nahe an die beiden
heran, daß eine Entscheidung, wer hier wem Platz macht, fallen muß.
Unsere vorgespielte Tapferkeit zeigt Wirkung. Mutter und Sohnimatz (der
uns alle drei locker in die Tasche stecken könnte) erheben sich und
trotten zur Seite.
Nach einem kurzen Spaziergang durch den Wald der Vapenny Vrch (Maschkenberg)
kommen wir in Rybniste an. Das Dorf sei unverbesserlichen Sozialismusromantikern
empfohlen. Der Zustand der Häuser und Gärten, die rudimentären
Reste der Lautsprecher vom Dorffunk oder die teilweise grotesken Auslagen
längst geschlossener Geschäfte - hier scheint die Welt Ende der
60er Jahre stehen geblieben zu sein. Ein leicht sibirischer Einschlag ist
nicht zu übersehen.
Immerhin finden wir einen Dorfkonsum, der geöffnet hat. Wir decken
uns mit dem notwendigsten an Reiseproviant ein: Brot, Touristensalami (der
Kenner weis Bescheid) und nicht zuletzt - Rum. Außerdem werden die
Bestände an Heftpflaster aufgestockt. Wir beginnen zu ahnen, daß
die Füße bald mit lustigen Blasen übersät sein werden.
Das Wetter hat sich nun entschlossen mit Nieselregen aufzuwarten. Er
ist so schwach, daß wir zu faul sind, die unbequemen Regenplanen
überzuwerfen. Außerdem führt der weitere Weg durch den
Wald. Doch ganz allmählich weichen die Klamotten durch und wir werden
naß. So sind wir ganz froh, als wir am späten Vormittag auf
einem Berghang eine Schenke erblicken. Sie verspricht eine warme Stube
und wärmende Getränke, genau das richtige zum zweiten Frühstück.
Leider hat die Hütte geschlossen. Wir drücken noch auf mehrere
Knöpfe neben der Tür, die wir für Klingeln halten. Aber
wir erreichen nichts. So bleibt nichts weiter übrig, als uns unter
das Vordach zu setzen und den Reiseproviant anzureißen.
Als erstes wird die Flasche Rum geöffnet. Das wärmt durch!
Dabei haben wir Gelegenheit die Konstruktion der Regenrinne vom Vordach
zu bewundern. Sie ist ziemlich im freestyle angebaut worden, tschechisch
eben. Ich stelle mir die Frage, ob der Klempner nicht auch gerade in die
Rumflasche guckte, als er die Rinne montierte.
Der Rum hat unsere Stimmung gehoben, der weitere Weg bringt sie wieder
nach unten. Der Waldweg ist völlig aufgeweicht und glücklicherweise
sind tonnenschwere Forstfahrzeuge darüber gefahren. Sie haben metertiefe
Spuren in den Schlamm gegraben. Bei jedem Schritt sinken wir bis zur Hüfte
ein und können diesen Abschnitt nur unter Aufbietung übermenschlicher
Kräfte bewältigen.
Endlich erreichen wir die Straße zwischen Varnsdorf und Cvikov.
Ab hier geht ein manierlicher Weg weiter. Der führt uns nach ein,
zwei Stunden bis Horni Svetla, das ist der Ort vor unserem Tagesziel Krompach.
Auf den letzen Kilometern scheint wieder die Sonne - Durst !
Wir rücken in das erste entgegenkommende Kneipchen ein, es ist
bereits nach 15 Uhr. Ursprünglich war es nicht vorgesehen derartig
lange Abstände zwischen den Rasthäusern zu haben. Beim kühlen
Bier denken wir darüber nach, wie wir in Krompach die beiden anderen
treffen und spielen im Geiste Varianten durch, sollten wir uns verfehlen.
Dabei malen wir uns aus, wie Charly wohl am Ort des Geschehens eintreffen
wird. Er will von seinem Ferienlager mit öffentlichen Verkehrsmitteln
anreisen. Die Methode Bus und Bahn zu benutzen ermöglicht den Konsum
von alkoholischen Getränken. Durch sein offenes und freundliches Wesen
wird Charly dabei auch viele neue Freunde kennenlernen. Na, warten wir
es ab.
Irgendwann brechen wir auf, um das letzte Stück unter die Füße
zu nehmen. Um 17 Uhr wollen wir in Krompach sein. Die letzten Kilometer
geht es die Straße entlang und das stupide Laufen macht gewaltig
pflastermüde. Nach einer Stunde sind wir an der Kirche, geschafft
!
Roger ist kurz vor uns dort eingetroffen. Er kam von der Zittauer Seite
herüber und hat es sich am Wegesrand gemütlich gemacht. Tatsächlich
existiert in unmittelbarer Nähe eine Kneipe und wir entern sie zwecks
Abendbrot und Abendgestaltung.
Als erstes fällt uns die Kellnerin in Auge, die durch ein außerordentlich
angenhmes Äußeres zu bezaubern weis. Deshalb will sich auch
keiner mit dem Rücken zum Tresen setzen. Wir nehmen alle vier auf
der anderen Seite des Tisches Platz und sitzen nun da wie im Sperrsitz
vom Kino. Durch gelegentliche Bierbestellungen gelingt es uns sogar, die
hübsche Kellnerin immer wieder an unseren Tisch zu locken
Endlich kommt auch Charly. Der Bus hält unmittelbar vor der Kneipe
und Charlys Erscheinen bestätigt in etwa unsere Prognose vom Nachmittag,
mit blendender Laune und gut angefeuchtet betritt er den Gastraum. Unterwegs
hat er viele nette Leute kennengelernt.
Als einzige noch zu lösende Tagesaufgabe bleibt wieder die Übernachtungsfrage
zu klären. Auf dem Weg durch das Dorf haben wir kaum Geeignetes gesehen.
Unweit der Gaststätte befindet sich zwar eine verlassene Stallanlage.
Dort könnte man sogar kostenlos nächtigen. Doch in der Dunkelheit
einzurücken (praktischerweise hat niemand eine Taschenlampe einstecken)
birgt gewisse Risiken. Es ist eine Mauer zu überklettern, die Fenster
sind größtenteils vergittert und niemand kann die Garantie übernehmen,
daß nicht in den Gebäuden noch knietiefer Schweinemist liegt.
Ich habe keine Ahnung, wann wir mit den Einheimischen in der Kneipe
ins Gespräch kamen, jedenfalls können wir 100 m weiter in einer
kleinen Pension nächtigen. Der Komfort ist einfach und der Preis dafür
ist lächerlich. Verständlich, denn das Gebiet ist touristisch
kaum erschlossen und einzige Pensionsgäste außer uns sind ein
paar Arbeiter und Monteure.
Es sind mittlerweile etliche Biere verklappt worden, als wir unser Quartier
in Augenschein nehmen wollen. Dazu schaffen wir auch gleich die Rucksäcke
mit herüber, denn das will getan sein, solange man noch einigermaßen
bei Kräften ist. Charly hat in dieser Hinsicht schon eine gewisse
Grenze erreicht. Am Schluß saß er am Tisch, die Stirn auf der
Platte und die Augen geschlossen. Sicherlich rechnete er eben mal das kleine
Einmaleins durch. Liebevoll liefern wir ihn in seinem Bettchen ab. Hier
kann er sich bis morgen früh ausschlafen.
Nachdem wir die Unterkunft mit einer gewissen Zufriedenheit begutachtet
haben, sind wir der Meinung, daß die Abendgestaltung fortgesetzt
werden sollte. Unsere Worte müssen tief in Charlys Unterbewußtsein
gedrungen sein. Schlagartig ist er wieder wach und der festen Überzeugung
auch noch einmal mitkommen zu müssen. Bei einer Pinkelpause auf dem
Weg zur Kneipe fällt er zwar vorwärts in die Hecke, aber das
bringt ihn nicht von seinem Vorhaben ab.
Nach den nächsten Bieren im Hostinec mutiert Charly zum Minister
für komisches Gehen; John Cleese ist ein bemitleidenswerter Anfänger
dagegen. Das finden auch die im Gastraum verbliebenen Eingeborenen, die
auf diese Weise eine gelungene Coverversion von Monty Phyton`s Flying Circus
erleben dürfen.
Die Kellnerin hat uns mittlerweile bedeutet, daß die letzte Bestellung
anliegt. Sie will schließen. In panischer Angst lassen wir uns den
Tisch voller Bier stellen.
Charly ist mittlerweile ausgenordet. Er verwechselt auf dem Weg zum
WC die Himmelsrichtung und knallt nun in einer völlig verkehrten Ecke
des Raumes gegen eine Holz-/Glastür. Reflexartig reißt er die
Arme auseinander, doch die Tür ist zu groß und er findet keinen
Halt. Mit ausgebreiteten Armen (wie Christus am Kreuz) sinkt er langsam
hinter der Scheibe zusammen.
Die Blicke des Personals lassen uns ahnen, daß es nun Zeit sei
zu gehen. Schnell pressen wir noch die Biere der letzten Bestellung herunter.
Da auch Flaschenbier erhältlich ist, nimmt sich jeder ein paar Karaffen
davon mit. Wir erhalten sie ohne Probleme, denn wir machen Anstalten, das
Lokal ernstlich zu verlassen.
Auf dem Zimmer werden die Flaschen unverzüglich geöffnet.
Die Gespräche dabei drehen sich um so Dinge. Nachdem die Biere größtenteils
geleert sind, ist bei den meisten eine gewisse Müdigkeit zu verzeichnen.
Nur Roger und ich sind der Meinung, daß es noch nicht alles gewesen
sein kann.
Während sich die anderen zu Bett begeben, brechen wir zwei in den
Ort auf, um ein paar Getränke zu organisieren. Gegenüber der
Kneipe scheint ein Wohnheim zu sein, vielleicht läßt sich die
getränketechnische Seite mit ein paar Lehrlinginnen kombinieren ...
Nach einer viertel Stunde ist klar, diesen Weg hätten wir uns sparen
können. Im Ort ist stockfinstere Nacht und die Wohnheimtür verschlossen.
Es wäre ohnehin anzuzweifeln, daß wir, derartig hübsch
zurechtgemacht, irgendwelche Erfolge erzielt hätten.
Unbefriedigt gehen wir zum Quartier zurück und legen uns auch ins
Bett. Ich schlafe ausgezeichnet. Schließlich bin ich soweit im Eimer,
daß ich den strengen Geruch der Wanderschuhe und die Blutblasen an
den Füßen erst am nächsten Morgen wieder bemerke.
Dienstag, 01. September 1998
Krompach - Albrechtice (Nova Ves) - 45 km
Die Unterkunft in Krompach ist ohne Frühstück. So geht es
gleich nach der Körperhygenie gegen 7:00 Uhr hinaus auf den Pfad.
Heute haben wir kein festes Tagesziel, wir wollen aber so nahe wie möglich
an das Isergebirge herankommen. Es gilt also Kilometer zu schruppen.
Der Beginn des Weges führt uns durch die Wälder südlich
des Zittauer Gebirges. Die ersten Meilen brauchen wir, um halbwegs in die
Gänge zu kommen. Die Füße müssen sich erst wieder
an die Form der Wanderschuhe anpassen und nach einer guten Stunde spürt
man auch die aufgeriebenen Blasen nicht mehr. Vom Vorabend sind ein paar
Neigen in den Bierflaschen übrig geblieben. Das Zeug ist warm und
schal. Ich ekle sie mir trotzdem herein, denn es ist die einzige Verpflegung
um diese Zeit und wir werden für den Weg Kalorien brauchen.
Gegen mittag erreichen wir Chotyne, das Dorf unterhalb der Burg Grabstein.
Die letzten Kilometer haben wir querfeldein zurückgelegt, um etwas
abzukürzen. Der Weg über den weichen Sturzacker forderte einiges
ab und wir kommen ziemlich fertig im Ort an. Außer einem mickrigen
Picknick gab es bisher noch nichts zu Essen. Es ist mittlerweile 12 Uhr
und wir haben Hunger.
Glücklicherweise befindet sich in dem Nest eine Kneipe. Diese Bezeichnung
ist an dieser Stelle bewußt gewählt. Es handelt sich um ein
Etablissement in dem der einfache Mann sein Bier zu trinken pflegt. Die
Möblierung ist eher schlicht und Carsten läßt die Bemerkung
fallen, daß hier wohl aus Protest über die Niederschlagung des
Prager Frühlings seitdem die Gardinen nichtmehr gewaschen wurden.
Unserem Wunsch nach Bier kann entsprochen werden. Leider gibt es nichts
zu essen, außer ein paar Erdnüssen und Salzstangen am Tresen.
Allmählich füllt sich der Stammtisch, es kommen immer mehr
Tschechen herein. Sie tragen alle Arbeitskleidung und trinken ihr sauer
verdientes Mittagsbier. Pünktlich halb eins sitzt der Tisch voller
Leute und es werden zwei Gitarren ausgepackt. Es erklingen (vermutlich
fäkale) Gesänge auf tschechisch. Nun wird schnell klar, daß
die Menschen auf diese Art und Weise den Tag ausklingen lassen werden.
Nachdem wir uns einigermaßen erfrischt haben, verlassen wir hungrig
die Kneipe. Am Bahnhof verabschieden wir uns von Specki. Bei ihm zeichnen
sich Knieprobleme ab und so will er vorbeugend eine Auszeit nehmen. Er
wird mit Bahn und Bus ins Misthaus fahren und dort auf uns warten. Am Mittwoch
Abend werden auch wir dort aufschlagen. Specki hofft, daß sich bis
dahin seine Knie wieder beruhigt haben und er weiter bis zur Schneekoppe
mitkommen kann.
Die anderen vier nehmen sich den Weg der zweiten Tageshälfte vor.
Wir haben fest damit gerechnet, während der Tour in angemessenen Abständen
auf Verpflegungsstützpunkte zu treffen; seien es nun Gasthäuser
oder Lebensmittelläden. Die Gegend bis zum Isergebirge ist vom Tourismus
ziemlich unberührt. So ist in dieser gottverlassenen Ecke die Ausstattung
mit Einrichtungen dieser Art eher spärlich. Unsere Proviantvorräte,
die den Charakter einer Notreserve haben, sind schnell verbraucht. Wir
behelfen uns notdürftig mit Äpfeln und Maiskolben vom Wegesrand.
In Vaclavice, dem nächsten Ort, gibt es zwar Restaurant und Laden,
beides öffnet aber erst 15 Uhr wieder. Wir wollen die Stunde nicht
warten und marschieren weiter. Die Sonne scheint prächtig und es entwickelt
sich ein Durst, der mit jedem Kilometer größer wird. Unglücklicherweise
ist es kein gewöhnlicher Bierdurst, wie man ihn eigentlich immer verspürt.
Es ist ein richtiger gemeiner Durst, der auf dem Mangel an Flüssigkeit
beruht. Wir leiden. In dieser Hinsicht zeigt sich unsere Verwandschaft
mit den alten Germanen, über die schon Tacitus sagte: ... für
Strapazen und Mühen bringen sie nicht dieselbe Ausdauer auf [wie
für das Kämpfen - d. Verf], wohl sind sie durch Klima und
Bodenbeschaffenheit gegen Kälte und Hunger abgehärtet, am wenigsten
aber vertragen sie Hitze und Durst.
Von unseren Getränkevorräten ist nur noch eine halbvolle Flasche
Rum übrig, die nun als Durstlöscher herhalten muß.
Endlich erreichen wir Vitkov. Auf einem Feldweg kommen wir oberhalb
des Dorfzentrums heraus. Es wäre ein Umweg zur Ortsmitte zurückzugehen.
Nach kurzer Diskussion beschließen wir weiter zu gehen. Wir hoffen
auch am Ortsrand ein Hostinec oder einen Laden zu finden. Wir haben Pech.
An den Wegesrändern stehen nun nicht einmal mehr Apfelbäume oder
etwas anderes, das sich zum Picknick eignen würde. Langsam wird die
Lage prekär, seit dem Frühstück sind wir ohne nennenswerte
Mahlzeit unterwegs. Ich habe Durst wie ein finnischer Kesselschmied, die
Motivation beginnt langsam zu sinken.
Als nächstes ist auf unserer Karte die Siedlung Vysoky verzeichnet.
Sie entpuppt sich als Ansammlung von verlassenen Scheunen und Ställen.
Es bleibt uns nichts weiter übrig, als bis Albrechtice zu marschieren.
Dieser Ort liegt vor den Toren des Isergebirges und so haben wir unter
den vorbeschriebenen Entbehrungen wenigstens das Tagesziel geschafft.
Von einer schnurgeraden Allee aus kann man schon von weitem das Dorf
sehen. Im Geiste erblicke ich volle Biertöpfe und Riesenportionen
Gulasch mit Knödeln. Ich sehe sie förmlich vor mir schweben.
Gleich an der ersten Kreuzung stehen zwei Polizisten und kontrollieren
Fahrzeuge. Wir fragen die Freunde und Helfer, wohin man sich im Ort wendet,
um am schnellsten zu einer Restauration zu gelangen. Wir erhalten die vernichtende
Antwort, daß es dergleichen im Ort nicht gibt. Ein tschechisches
Dorf ohne Kneipe ! "Ooch, schade!" ist Charlys Kommentar dazu.
Jetzt ist die Luft endgültig raus. Völlig fertig setzen wir
uns in die Bushaltestelle und halten Kriegsrat. Der nächste auf der
Karte verzeichnete Bierkrug befindet sich im Gebirge und ist im Hellen
nichtmehr zu erreichen. Mittlerweile ist es 17 Uhr geworden. Da wir etwas
essen m ü s s e n wird die Alternative hungrig und durstig im Bushäuschen
zu übernachten verworfen.
Wir machen uns auf den Weg ins Nachbardorf, wo wir hoffen nun endlich
etwas vorzufinden. Die Strecke geht bergab und wir verlieren leider wieder
etliche der erkämpften Höhenmeter. Die mentale Lage der Reisegruppe
will ich an dieser Stelle nicht eingehender beschreiben. Völlig abgestumpft
trottet jeder vor sich hin. Erst nach einer weiteren guten Stunde Fußmarsch
stehen wir in Nova Ves vor dem Wirtshaus, wir sind etwa 5 - 6 km Wegstrecke
zurückgelaufen.
Die Kneipe ist in ihrem Selbstverständnis ein Restaurant, zumindest
steht das auf dem Schild über der Tür. Wir nutzen die Möglichkeit
uns zu restaurieren. Unser Hunger ist mittlerweile einer gewissen Appetitlosigkeit
gewichen, das Abendbrot bestellen wir nur aus Vernunftsgründen. Die
Speisen sind als gut zu bezeichnen. Carsten erhält eine Forelle, die
er nur unter Aufbietung der letzten Kraftreserven schafft zu verdrücken.
Der oben beschriebene germanische Durst wird, wie gewöhnlich, mit
Bier gelöscht und nach einigen Runden Gerstensaft sind wir mental
wieder auf der Höhe. Unsere Anfrage nach einem Nachtquartier im Gasthaus
wird negativ beschieden. Es werden keine Zimmer vermietet. Ich habe das
Gefühl, daß ganz speziell an uns keine Zimmer vermietet werden.
Der Kellner musterte uns bereits bei unserem Eintreten. Immerhin hat er
diesen Haufen verdreckter, ungekämmter Langhaariger korrekt bedient.
Das erweckt bei uns eine gewisse Dankbarkeit.
Die Unterkunftsfrage muß also noch gelöst werden. Seit Stunden
ist es dunkel und so wählen wir die einfachste Lösung. Schräg
gegenüber des Restaurants, auf der anderen Seite des Dorfbaches, befindet
sich der örtliche Fußballplatz. Am Umkleidegebäude sind
auch einige überdachte Stehplätze vorhanden, Tribünenplätze
für die VIPs des Dorfes.
Todmüde aber einigermaßen vor Regen geschützt rollen
wir dort die Schlafsäcke aus. Mein Liegeplatz befindet sich direkt
unter einem Fenster des Sportplatzgebäudes. Ich äußere
die Hoffnung, daß am nächsten Morgen aus diesem Fenster heraus
ein Bierverkauf stattfindet. Auf dem Fußballplatz ist ein solcher
Ausschank gut vorstellbar. Wie beim Erwerb von äußerst raren
Eintrittskarten werde ich die Nacht davor im Schlafsack zubringen, um am
nächsten Morgen der erste am Schalter zu sein.
Die Wanderstiefel können unter freiem Himmel etwas entlüften.
Das haben sie auch bitter nötig. Auf dem knochenharten Betonfußboden
schlafe ich wie ein Stein.
Mittwoch, 02. September 1998
(Nova Ves - Misthaus 35 km)
Kurz nach Sonnenaufgang wache ich von dem Geraschel der anderen auf,
bleibe aber noch mit geschlossenen Augen liegen. Richtig munter macht mich
erst Carstens Kommentar: "Also Hops, an dem Fenster hier wird wohl kein
Bier verkauft werden.
Aber an diesem Fenster!" Tatsächlich hängt am Nachbarfenster
eine Preisliste, welche stolze sechs verschiedene Sorten des Getränkes
verspricht. Leider öffnet niemand, während wir zusammenpacken.
So starten wir ohne eine diesbezügliche Stärkung unsere heutige
Etappe. Es soll, quer durch das Isergebirge, zum Misthaus gehen.
Im Wartehäuschen ist für 6:30 Uhr ein Bus ausgewiesen, der
die am Vorabend blödsinnigerweise zurückgelaufene Strecke fahren
würde. Wir kommen aber nicht in Versuchung, von unserem Vorsatz abzuweichen,
die gesamte Strecke laufen zu wollen. Der Bus fährt nicht.
Als Einstimmung geht es nun den Berg hinauf nach Albrechtice.
Bevor es in Isergebirge hinein geht, finden wir dort einen tschechischen
Tante Emma-Laden. Ich habe zwar keine Ahnung, was Tante Emma auf tschechisch
heißt, aber was an diesem Laden tschechisch ist, ist offensichtlich.
Auf ca. 5 m² findet sich das komplette Sortiment eines Supermarktes.
Der Kamm liegt neben der Butter, die Nudeln werden aus dem Sack verkauft,
sehr schön - wie zu Omas Zeiten. Dieser Laden sei hiermit zur Besichtigung
und zum Einkauf weiterempfohlen. Wir decken uns mit Proviant ein und halten
ein ausgiebiges Frühstück ab.
Der weitere Weg führt über die ersten Vorgipfel des Isergebirges.
In ausgedehnten Buchenwäldern sind bizarre Felsgebilde zu bewundern,
die durch die Frostverwitterung des Granits entstanden sind. Es ist ein
wildromantischer Teil, den man als Genußweg beschreiben kann.
Leider trüben die wunden Füße und schmerzenden Knie
das Erlebnis ein wenig. Vor allem Charly, der gleich als erste Wanderung
die Gewalttour der gestrigen 45 km zu bewältigen hatte, ist in dieser
Hinsicht etwas mitgenommen. Wir erreichen die Verbindungsstraße zwischen
Raspenava und Oldrichov. Hier beschließt Charly für seine Person
die Tour abzubrechen. Es ist die letzte Möglichkeit vor dem eigentlichen
Gebirge noch einen Bus zu erreichen und der Weg wird nicht einfacher. Wir
bedauern, daß Charly uns verläßt, akzeptieren aber seine
Vernunftsentscheidung.
An der Straße befindet sich eine gemütliche Western-Kneipe.
Gustav Ginzel wird sie uns heute Abend als Geheimtip anpreisen. Bis spät
in die Nacht wird Country-Musik gespielt und danach kann man sich zum Schlafen
in den Heuboden schmeißen. Die Übernachtung ist für lau.
Wem sowas gefällt, sollte dort mal hinfahren. Leider hat das Ding
am späten Vormittag noch geschlossen. So hilft uns eine gute Flasche
Bier aus dem Rucksack über den Abschiedsschmerz von Charly hinweg.
Von nun an beginnt der Aufstieg auf den 864 m hohen Polednik. Es wird
richtig Ernst. Der Gipfel hat Rosenberg-Qualität.*)
Auf der Hälfte des Anstieges befindet sich eine kleine Lichtung. Wir
fallen erst einmal ins Gras und dampfen wie die Pferde im Winter. Uns umkreist
eine stattlich Anzahl Fliegen. Das hat sicher damit zu tun, daß wir
seit zwei Tagen kein Wasser mehr gesehen haben.
Wie wir so sitzen, kommt ein Pärchen den Waldweg herauf, welches
den Anstieg locker und ohne Anstrengung, fast schlendernd, bewältigt.
Ohne Kraxe vereinfacht das die Sache sicherlich, trotzdem nötigt uns
die Leistung einigen Respekt ab. Und es kotzt uns an, daß jemand
einfach so hochmarschiert, während wir uns abschinden.
Irgendwann sind wir auf dem Berg. Wieder Pause. Frühstück!
Zweites Frühstück - oder Mittag? egal.
Danach erreichen wir bald den Zentralteil des Isergebirges. Es hat hier
den Charakter einer ausgedehnten Hochebene, auf der Torfmoore und Torfwiesen
entstanden sind. Es entspringen zahlreiche Wasserläufe.
Das Isergebirge war seit Menschengedenken mit Wald bedeckt. Die ursprünglichen
Bestände wurden durch Fichten-Monokulturen ersetzt, welche durch die
Immissionsbelastung der Kohlekraftwerke in großen Teilen eingingen.
Heute hat sich der Zustand der Luft deutlich gebessert und es sind erste
Erfolge beim Aufforsten der Bestände zu erkennen. Trotzdem macht das
Gebirge vor allem in den höheren Lagen noch einen mitgenommenen und
kargen Eindruck.
Die Wege sind hier auf der Hochebene asphaltiert und in der zweiten
Tageshälfte wird es wieder einmal darum gehen, möglichst viele
Kilometer zurückzulegen. Nachdem dabei erste Erfolge zu verzeichnen
sind, machen wir eine 15. Das Gelände links und rechts des Weges hat
starke Hanglage und so lassen wir uns mitten auf der Straße nieder.
Wir sitzen noch nicht lange, da ist von weitem ein Motorengeräusch
zu hören. "Wegen dem Trabbi können wir ruhig auf der Straße
sitzen bleiben, der fährt um uns herum." schlage ich vor. Das ist
ein sehr kühnes Ansinnen. Das Motorengeräusch schwillt an und
bald ist klar, das kann niemals ein Trabant sein. Mit großem Getöse
kommt ein Schwerlastzug Langholz den Hang heraufgedonnert. Die Kiste fährt,
was der Motor hergibt und das ist nicht wenig. Ruckartig erheben wir uns
und machen dem Monster Platz. Dabei können wir aber nicht sehr weit
abrücken, weil gleich neben der Straße der Steilhang beginnt.
Nun macht es sich bemerkbar, daß wir in einer leichten Kurve pausiert
haben. Roger und ich gehen an den Innenrand der Kurve, Carsten an den Außenrand.
Das war etwas unüberlegt. Als die Langholzfuhre vorbeizischt, schwuppen
die Stammenden nach außen und flitzen um Haaresbreite an Carstens
Kopf vorbei. Seine Rastas wehen dazu im Sog der Hölzer.
Nachdem die besengte Sau vorbeigefahren ist, haben wir Zeit darüber
nachzudenken - knappe Sache, das.
Die weitere Strecke wird relativ unaufregend. Die Wege auf der Hochebene
sind endlos. Von Zeit zu Zeit sind am Wegesrand kleine Kioske aufgebaut,
die bedauerlicherweise alle geschlossen sind. Selbst der Kiosk namens "Na
Knajpu" hat geschlossen. Die Dinger haben nur während der Hochsaison
geöffnet und die ist im Isergebirge im Winter. Hier gibt es viele
schöne gespurte Ski-Langlaufstrecken. Eimal im Jahr findet auch der
Isergebigslauf statt. Ihn als Wasa-Lauf für Arme zu bezeichnen, wäre
vielleicht etwas diskriminierend. Er ist eher so etwas wie die Friedensfahrt
für Skilanglauf.
Auch im Sommer haben die Wege hier etwas mit Langlauf zu tun. Nach Stunden
kommen wir in der Smedava-Baude (dt.: Wittig-Haus) an. Hier wird erst einmal
aufgetankt. Vom WC der Smedava hat man einen herrlichen Ausblick auf das
Gebirgsvorland. Der Blick schweift hinab, über Hejnice und Bily Potok
hinweg, bis weit nach Polen hinein. Es ist im Isergebirge mit Abstand die
schönste Aussicht aus einer Toilette heraus und eine der besten Klo-Aussichten
überhaupt.
Von der Smedava ist es nur noch eine gute Stunde bis ins Misthaus. Hier
wohnt Gustav Ginzel, ein vitaler Kauz in den sechzigern. Der Mann ist Weltenbummler,
Lebenskünstler, Philosoph und Mensch. Wir sind des öfteren bei
ihm zu Gast. Gustav hat die ganze Welt gesehen. In seiner Küche haben
wir die Dias der Reisen angeschaut und dabei seinen Erzählungen und
Schnurren gelauscht. Im Misthaus kann man der Hektik der Zivilisation entfliehen
und in nur wenigen Tagen die innere Ruhe wiederfinden. Man ist am Arm der
Welt. Es ist ein sehr schöner Arm.
Das Misthaus selbst ist eine gemütliche Rumpelkammer. Das Haus
ist vollgestopft mit Krimskrams und Dingen, die Gustav von seinen Reisen
mitbrachte. Es gibt riesenhafte Tannenzapfen, ostfriesische Taschenrechner,
Schrumpfköpfe, negative Löffel, Antivergewaltigungsbetten, seltene
Steine (Edel-, Halbedel- und einfach nur Steine), ein Stereo-Klo, den SPIEGEL
vom 19. März 1972 und eine unerschöpfliche Anzahl weiterer Exponate
zu bewundern.
Der Bach fließt durch das Vorhaus, das ist insbesondere vorteilhaft für das Geschirrspülen. Abends hineingestellt ist es am nächsten Morgen sauber.
Die Klobrillen hängen über dem Ofen in der Küche. Auch das hat Vorteile.
1. Der Klositz ist immer warm.
2 Man sieht sofort: ist die Klobrille nicht da, dann ist die Toilette besetzt.
3 Da der Sitz vor aller Augen am Haken hängt wird er auch immer, immer sauber wiedergebracht.
Durch solcherart einfache und praktische Einrichtungen ist das Leben
im Misthaus geregelt und ich empfehle dem geneigten Leser es selbst einmal
zu besuchen.
Will man eine Reise tun, sagen wir mal nach Burundi, dann fährt
man vorher am besten ins Misthaus. Hier trifft man immer Gleichgesinnte
(sog. Misthäusler), von denen man einige wertvolle Tips erhalten kann.
Und egal wohin man will, Gustav war auch schon dort (außer in der
Mongolei -ätsch!).
In der Rumpelküche des Misthaus treffen wir Specki wieder, Gustav
ist im Wald Holz machen. Bei einem Glas Tee werten wir aus, was jeder so
in den letzten Tagen erlebt hat. Im Dachboden sucht sich jeder einen Schlafplatz
und leckt seine Wunden.
Die Füße sind mittlerweile nur noch blutige Stümpfe.
Wie ägyptische Mumien bandagieren wir sie mit Heftpflaster. Die Wanderstiefel
sind hier oben nicht zugelassen und so stehen sie im Vorhaus und verbreiten
dort ihren schlechten Atem.
Zum Zwecke der Einnahme von Abendbrot gehen wir noch einmal in den Ort.
Jizerka (Klein-Iser) hat mit seinen 6 ständigen Einwohnern immerhin
ca. 10 Kneipen aufzuweisen (je nach Saison). Heute entscheiden wir uns
für die Pyramida. Sie wird von Frantisek Suchy betrieben, der uns
aufgrund unserer häufigen Aufenthalte dort ein guter Freund geworden
ist. Wir haben uns seit zwei Tagen nicht gewaschen und sind völlig
verschwitzt. Im Misthaus gibt’s nur kaltes fließendes Wasser (Bach),
warmes Waschwasser muß man sich selbst zubereiten. Darauf hatten
wir heute keinen Bock. Franta ist Kumpel und läßt uns die Personaldusche
benutzen. Das ist gut.
Frisch geduscht verspachteln wir das Abendbrot. Danach brauchen wir
bis nach Mitternacht, um die Biere auszutrinken, die Franta uns immer wieder
auf den Tisch stellt.
Donnerstag, 03. September 1998
(Misthaus - Martinova-Baude 25 km)
Nach dem Aufstehen gehe ich als erstes unter die Anti-AIDS Dusche. Das
ist ein hübscher Wasserfall, den die Kleine Iser hinter dem Misthaus
bildet. Um die Bezeichnung Anti-AIDS Dusche zu erklären, muß
man sich darüber im klaren sein, was AIDS bedeutet: AIDS ist eine
Immunschwäche. Schwäche wiederum ist ein Zeichen von mangelndem
Training. Beim Anti-AIDS-Duschen nun bleibt durch das kalte Bachwasser
die körpereigene Fettschicht auf der Haut enthalten, die bei der Benutzung
von warmen Wasser und Seife zerstört würde. Diese Fettschicht
bildet nun ein Biotop für alle Arten von Bakterien, die das Abwehrsystem
des Menschen trainieren und so eine Immunschwäche vermeiden. Außerdem
hat man nach einer Dusche mit dem saukalten Wasser eine ganze Weile keine
Chance mehr, sich irgendwie mit AIDS zu infizieren.
Soweit Gustavs Ansichten dazu. Von unserem Vorhaben, auf die Schneekoppe
zu laufen, war er übrigens nur mäßig beeindruckt. Er erzählt
die Mär, daß vor Zeiten mal jemand früh, bei Sonnenaufgang,
vom Misthaus zur Schneekoppe aufgebrochen ist und bei Sonnenuntergang wieder
zurück war. Der hatte aber sicher als einziges Gepäck nur Portemonnaie
und Kamm in der Gesäßtasche. Wir mit unseren Kraxen und ausgeleierten
Beinen werden allein für die Hinstrecke noch 1 1/2
Tage brauchen.
Immerhin gibt Gustav uns den guten Tip auf dem Weg nach Harrachov die
Bahnstrecke entlang zu gehen. Das ist kürzer und man vermeidet einen
Abstieg, den man vor Harrachov wieder bergauf müßte. Ein Tunnel
auf der Strecke wird dem Weg eine gewisse Würze verleihen.
Durch die kalte Dusche fühle ich mich wie neu geboren. Mit Elan
steuern wir auf die Pyramida zu, wo es Frühstück geben soll.
Wir sind fünf vor acht dort und die Tür ist noch verschlossen.
Wie ein Stier rüttelt Specki an der Haustür, als gäbe es
einen Notfall. Nunja, eine verschlossene Kneipentür ist schon irgendwie
ein Notfall. Jedenfalls wird aufgetan. Wir sitzen wieder am gleichen Tisch,
wie am Vorabend. Als das erste Bier auf dem Tisch steht hat Carsten ein
deja-vu Erlebnis. Mir geht es ähnlich, als wären wir nie aufgestanden.
Nur Franta sieht nicht ganz so frisch aus, wie gestern Abend.
Nach dem Frühstück gehen wir unterhalb des Bukovec (Buchberg)
an der Iser entlang. Es wird ein romantischer Weg den Bachlauf entlang.
Irgendwann müssen wir die Iser überqueren, selbstverständlich
gibt es keine Brücke. Es liegen aber große Steine im Fluß,
die uns zu Unvorsichtigkeiten verleiten. Mit der Kraxe auf dem Rücken
tänzeln wir also über die glitschigen Dinger, unter uns die schäumende
Iser. Glücklich erreichen wir das andere Ufer, ohne ins kalte Wasser
zu fallen. Freilich war es bei einigen Ausfallschritten und Fallrückziehern
kurz davor.
Endlich stehen wir vor der Bahnstrecke. Mit einer Wild-West-mäßigen
Brücke überquert der Schienenstrang die Iser um danach im Berg
und damit im Tunnel zu verschwinden. Gerade als wir ankommen rattert ein
Zug vorüber. Nun dürfte so bald keiner mehr kommen. Wir beeilen
uns, denn vor der nächsten Eisenbahn wollen wir den Tunnel sicherheitshalber
durchquert haben.
Zuerst geht es den steilen Bahndamm hinauf. Die Bahnlinie scheint als
Abkürzung häufiger genutzt zu werden. Es führt bereits ein
Trampelpfad nach oben und für ausreichende Bequemlichkeit haben die
tschechischen Menschen sogar ein Geländer aus Holzstämmen angelegt.
Oben angekommen verstärkt sich der Wild-West-Eindruck von der Brücke
nochmehr. Wir laufen auf ziemlich wackligen Gitterrosten (Gitter rosten)
durch die man hinunter in die Iser sehen kann. Ich wundere mich, daß
die Gitter alle halten und niemand mit so einem Ding in die Tiefe saust.
Nun stehen wir vor dem Tunnel. Es sieht nicht gerade breit aus und außer
Schiene und Zug ist nicht vielmehr darin unterzubringen. Es sollte also
wirklich keine Bahn kommen, während wir da durch laufen. Unerschrocken
betreten wir den finsteren Schlund.
Anfangs ist durch das Tageslicht noch ein wenig zu sehen. Doch der Tunnel
verläuft quasi "S"-förmig, wobei jeweils an Tunneleingang und
Tunnelausgang eine der Kurven liegt. Nachdem also die Eingangsöffnung
hinter der ersten Kurve verschwunden ist, wird es dunkel. Den Tunnelausgang
werden wir erst nach der nächsten Kurve erblicken.
Hier in der Tunnelmitte ist es stockfinster. Wir sehen buchstäblich
nichts, es ist unglaublich. Beim Gehen treten wir in einem wilden Mix auf
Schotterfläche, Bahnschwellen, Schiene oder die Füße des
Vordermanns. Es ist ein ungeheures Gestolper. Nach einer Weile ist es unmöglich
herauszufinden, wo vorn oder hinten ist. Lediglich wo unten ist, läßt
sich mit einiger Gewißheit sagen.
Specki hat als einziger von uns vieren eine Taschenlampe dabei. Das
Gerät schwächelt aber derartig, daß Carsten schon überlegt,
den Fotoapparat aus dem Rucksack zu holen und mit dem Blitzlicht zu leuchten.
Nach etwa 200 m der Stolperei, wir befinden uns im letzen Drittel des
Tunnels, glauben wir uns verhört zu haben. Aber nein, es ist wahr.
Um das Maß voll zu machen fährt nun ein Zug in den Tunnel ein,
er kommt uns direkt entgegen. Seitlich ausweichen können wir nicht,
da ist kein Platz. Nach vorn können wir nicht, dort ist ja der Zug.
Zurück können wir auch nicht. Der Weg bis zum Tunnelausgang ist
schon viel zu weit und niemals zu schaffen, bevor die Lok aufschlägt.
Es geht alles sehr schnell. Im herannahenden Licht sehen wir plötzlich
eine Nische in der Tunnelwand. Dieser Unterstand ist jedoch nur für
eine oder zwei Personen ausgelegt. Nun wollen aber vier Personen mit geschulterten
Rucksäcken darin Platz finden. In Sekundenbruchteilen ist jeder Quadratzentimeter
der Nische mit Mensch oder Rucksack ausgefüllt - wir wollen leben!
Ich sehe noch das starre Entsetzen im Gesicht des Lokführers, als
ich mich als letzter in den Unterstand presse. Dann rauscht der Zug an
uns vorüber.
Wieder auf freier Strecke genießen wir ersteinmal das Leben. Das
wurde uns hier mit Sicherheit zum zweiten Male geschenkt. Hell scheint
die Sonne, die Luft ist mild und leichtfüßig wandert es sich
auf den Schienen bis nach Harrachov. Wir sind im Riesengebirge.
Nun wäre es Zeit für eine Mittagspause. In Harrachov herrscht
der übliche Touristenrummel und aus genau dem Grund stehen uns die
Gaststätten im Ort nicht an. Wir haben Harrachov schon durchquert
als wir, kurz vor den Mummelfällen, doch noch Station machen. Die
Möglichkeit, am letzten Kiosk vor dem Gebirge noch einen mickrigen
Imbiß einzunehmen, wollen wir nicht verstreichen lassen.
Hier probiere ich als Nachtisch ein neues Erzeugnis der Süßwarenindustrie.
Die wissen ja vor Dummheit auch nichtmehr, was sie noch erfinden sollen.
Es ist also ein Lutscher in Form eines grünen Fußes. Der muß
vor jedem Lutschvorgang in eine Tüte mit Brausepulver gesteckt werden,
welches dann am Fuß hängenbleibt.. Nimmt man ihn nun in den
Mund, fängt das Brausepulver ganz gewaltig an in der Gusche herumzukaspern.
Ich schätze, ich mache dabei ein ähnlich blödes Gesicht,
etwa wie die Comic-Figur auf der Verpackung. Was sind das nur für
Leute, die sich solchen Scheiss ausdenken??
Wir kommen mit ein paar Leuten am Kiosk ins Gespräch. Die Touri’s
(abschätzig für Touristen) sind schwer beeindruckt, von
unserer Tour. Endlich bewundert uns mal jemand! Wie ich ein neues Bier
vom Tresen hole, kehre ich den Iron-Man heraus und versuche ohne schmerzverzerrtes
Gesicht zu gehen. Als die Leute weg sind, nehmen wir uns vor, heute nur
noch bis zur Elbbaude zu laufen. Die liegt immerhin schon in über
1.300 m Höhe, doch wir dürften bereits vor 16 Uhr ankommen. Dort
oben soll dann ausruhen angesagt sein. Große Lust heute noch den
Helden zu spielen haben wir alle nichtmehr.
Der Weg schleicht sich vorerst ziemlich eben an der Mumlava entlang.
Erst kurz vor der Elbbaude kommt der Anstieg nach oben. Auf der Karte zeichnet
sich eine beeindruckende Häufung von Höhenlinien ab, das bedeutet
steil.
Nach über einer Stunde ebener Strecke stehen wir vor dem Weg nach
oben. Wir machen eine Pause um Kräfte dafür zu sammeln. Alle
sitzen stumm da und starren ins Leere. Nochmals wird der üble Anstieg
auf der Karte begutachtet und im Stillen denkt wohl ein jeder: muß
denn das sein? Mit Widerwillen erinnern wir uns an den steilen Einstieg
im Isergebirge. Wir haben Angst.
Nun, gegen das Isergebirge ist das hier der reinste Kindergeburtstag.
Der Weg geht zwar ständig aufwärts, aber er verläuft in
Serpentinen. Das entschärft ihn wesentlich. Unterwegs laben wir uns
an Blaubeeren, die am Wegesrand wachsen. So kommen wir in leidlich guter
Form an der Elbbaude an.
Die Baude hat wegen Umbau geschlossen. Nur ein kleiner Kiosk hat bis
16 Uhr geöffnet. Es ist 15:45 Uhr. Wir ordern neben dem Bier die ersten
Heißgetränke, hier oben ist es bereits empfindlich kühl.
Beim Vespern beraten wir, ob die Elbbaude tatsächlich Tagesziel sein
soll. Es ist zwar ein großes Vordach vorhanden unter dem wir kampieren
könnten. Es liegt auch etliches an Feuerholz herum. Aber es zieht
jämmerlich und die Versorgungslage ist unbefriedigend. So beschließen
wir noch eine Stunde Fußweg auf uns zu nehmen und zur Martinova Baude
zu laufen. Obwohl wir nicht wissen, ob sie zu dieser Jahreszeit geöffnet
hat.
Zuerst überqueren wir die Elbe, welche - oh Wunder - an der Elb-Baude
vorbeifließt. Dabei gehen wir über die kleinste Elbbrücke
der Welt. Der Weg, bisher asphaltiert oder wenigstens halbwegs eben, ändert
nun sein Profil. Er wird steinig und geröllig, richtig große
Steine, richtig fieses Geröll. Mir schmerzen die Knie, ich kann kaum
noch die Beine heben. Kurz bevor mich die Verzweiflung packt, kommen wir
an der Martinova-Bauda an.
Die Baude ist geöffnet. Für eine Berghütte ist ein erstaunlich
hohes Niveau vorzufinden, saubere Tischdecken, der Kellner: schwarze Weste,
weißes Hemd, die Haare zum Zopf zusammengebunden.
Als erstes bringen wir die Hygiene in Ordnung. Die Dinger von der Hüfte
abwärts sind jetzt einfach nur noch die Rutten (langes "RRR"). So
riechen sie auch.
Das Abendbrot ist ausgesprochen gut. Heute, am Donnerstag, ist es Sitte
im Purple Haze Skat zu spielen. Bis dorthin ist es momentan ein bißchen
weit. Doch um die Tradition nicht ganz zu ignorieren werden die Karten
gezückt und ein Skat geklitscht.
Das Hüttenpersonal versammelt sich allmählich vor dem Fernseher.
Es läuft gerade Stargate in einer lustigen tschechischen Synchronisation.
Auch der Koch kommt nun aus der Küche. Wir sind die einzigen Gäste
und da wir offensichtlich nichts mehr essen wollen, hat zumindest er nichtmehr
viel zu tun. (Beim Kellner sieht das etwas anders aus.) Der Koch geht zum
gemütlichen Teil des Abends über und stellt sich innerhalb einer
halben Stunde eine Flasche Jack Daniels in den Hals. Für die zweite
Flasche wird er etwas länger brauchen.
Unter den Hünen der Hüttenmannschaft sitzt ein Mädchen,
das vielleicht im siebenten Monat schwanger ist. Bei einer internen Altersschätzung
einigen wir uns auf 15 Jahre. Die Hüttenabende hier oben müssen
ja ziemlich einsam sein...
Carsten äußert die Vermutung, daß hier, wenn keine
Gäste da sind, wahrscheinlich nur gesoffen wird. Oder aber es wird
alles gevögelt, was bei "Drei" nicht auf den Bäumen ist. Nun,
das mit den Bäumen hat nicht viel Zweck. Draußen gibt es nur
noch hüfthohe Latschenkiefern.
Freitag, der 03.September 98
Martinova Baude - Schneekoppe! - Pec 15 km
Heute soll also der Angriff auf die Schneekoppe erfolgen. Wir wollen
den Grenzweg benutzen, der mal auf der tschechischen, mal auf der polnischen
Seite verläuft. Jahrelang durfte er nicht begangen werden. Das war
sicher ein Verlust, denn der Weg ist mit attraktiven Aussichten behaftet.
Beim Start haben wir aber erstmal Nebel. Es herrscht eine derartig dicke
Suppe, daß wir in etwa 50 m Entfernung an der Spindlerbaude vorbeilaufen,
ohne es zu bemerken. Als der Nebel kurz aufreißt, liegt sie schon
weit hinter uns. Die Gelegenheit, ein Bier einzunehmen, wird also in der
nächsten Baude auf polnischer Seite genutzt. Akzeptiert werden alle
gängigen Währungen, Zloty, Krone und D-Mark, wobei der Kauf mit
Zloty die günstigste Kaufkraft aufweist.
Am Grenzweg wird gebaut. Der Horska Sluzba befestigt den Weg und stellt
hier und da Geländer auf. Trotz dieser Bemühungen bleibt die
Strecke etwas holprig. Für unsere Beine bedeutet das die letzte Herausforderung.
Nur das nahe Ziel läßt uns nicht aufgeben.
Die Ankunft auf der Schneekoppe wird auf polnischer Seite sein. Keine
Ahnung, ob auf dem Gipfel Grenzbeamte stehen werden. Wir haben nur den
Ausweis mitgenommen und sind uns nicht sicher, ob wir nicht doch den Reisepaß
brauchen werden. Aber auch ohne Paß wollen wir auf die Tschechische
Seite gehen. Sollte die Sache eskalieren und die Grenzer schießen
uns in die Knie, ist das auch egal. So wie die sich jetzt anfühlen,
macht das keinen Unterschied mehr.
Gegen 14 Uhr sind wir oben. Nach 180 km Fußmarsch stehen wir auf
dem Gipfel und der Ausblick ist gleich null. Nebel. Statt auf der Schneekoppe
könnten wir auch auf jedem x-beliebigen Acker stehen. So halten sich
heroische Gefühle, es geschafft zu haben, in Grenzen.
Es sind keine Grenzer zu sehen. Wir ignorieren das Restaurant auf der
polnischen Seite und gehen gleich in die tschechische Republik hinüber.
Zu unserem Entsetzen ist hier die Gipfelbaude geschlossen. Beginnender
Verfall ist sichtbar.
Nur in einer sehr kleinen Hütte brennt Licht. Es ist das Schneekoppen-Postamt,
in dem man Ansichtskarten mit amtlichen Schneekoppen-Poststempel kaufen
kann. In der Hütte gibt es einen Verkaufsschalter, einen Tisch für
zehn Personen und einen Briefkasten, mehr geht nicht hinein.
Am Tisch sitzen etwa 15 Wandervögel und sind lustig. Wir schnallen
sofort, hier gibt es Bier! Am Tresen werden neben Ansichtskarten auch Knabbereien
und Getränke angeboten. Das ist das erste Postamt meines Lebens, in
dem Bier verkauft wird. Es wäre aber auch der Gipfel gewesen auf dem
Gipfel kein Gipfelbier zu haben. Wir gehen zu den Leuten am Tisch und machen
es uns bequem (furchtbar eng). Diese Karaffe böhmischen Gerstensaftes
wird nicht die letzte sein. Wir richten uns darauf ein, bis zum Abend zu
bleiben.
Daraus wird nichts. Der Postmann teilt uns mit, daß er um 15 Uhr
schließen wird. In der verbleibenden viertel Stunde pressen wir an
Bier hinein, was geht. Dann stehen wir wieder draußen.
Wir beschließen den Abstieg mit der Seilbahn vorzunehmen. Immerhin
haben wir es geschafft zu Fuß bis hierher zu gelangen. Ab jetzt "erlauben"
wir uns wieder andere Fortbewegungsmittel zu benutzen. Die nächste
Bahn fährt erst 16 Uhr und so setzen wir uns in die Mitropa-Gaststätte
der Seilbahn. Ein Zigeuner serviert uns Bier zu einem exorbitanten Preis.
Wir trinken nur eins.
Die Seilbahn ist ein einfacher Sessellift. Mit Grausen denke ich daran,
daß man auf den Sessel aufspringen muß. Ich habe keine Ahnung,
wie ich mit meinen kaputten Beinen mich und die Kraxe - und womöglich
noch zügig, - in den Sitz zu befördern soll.
Der Sessellift ist lieb und bremst kurz ab, damit man ganz komfortabel
aufsteigen kann. Was nun passiert kommt mir ziemlich dekadent vor. Wollte
man in den letzen Tagen von Punkt A nach Punkt B gelangen (sei es die Strecke
von Neustadt auf die Schneekoppe oder nur der Weg vom Abort zum Waschbecken)
dann war es immer erforderlich, seinen Hintern zu heben und die Strecke
zu Fuß zurückzulegen. Nun jedoch sitzen wir da und es schiebt
die Gegend an uns vorbei, ohne daß wir etwas tun müssen. Wie
im Kino.
Unten kommen wir in Pec heraus, interessant. Was passiert, nachdem wir
die Schneekoppe abgehakt haben, darüber haben wir überhaupt noch
nicht nachgedacht.
Wir finden Quartier in einer Art Sport-Hotel. Die Unterkünfte sind
für Mannschaften ausgelegt, d.h. zwei bis drei Zimmer (für insgesamt
ca. 10 bis 20 Leute) sind immer zusammengefaßt und haben einen eigenen
Sanitätrakt und Flur. Wir vier haben so eine Abteilung für uns
allein.
Als erstes waschen wir uns den Staub vom Leib. Wie ich über den
Flur zur Dusche gehen will, haut es mich bald um. Dort stehen unsere Wanderschuhe.
Es stinkt barbarisch. Der Flur hat keine Fenster und so multiplizieren
sich die Dämpfe aus den acht zum Lüften aufgestellten Botten.
Junge, Junge!
Nach dem Duschen möchten wir uns für die Tour etwas belohnen.
Gleich im Erdgeschoß des Sporthotels befindet sich eine Pizzeria.
Dort wollen wir unseren Hunger stillen. Die Einrichtung ist nagelneu und
hat amerikanischen Einschlag, ziemlich austauschbar, beliebig und ohne
Flair. Wir beschließen nach dem Essen fürs gesellige Beisammensein
das Lokal zu wechseln.
Da Roger zweimal ißt, sitzen wir doch eine ganze Weile. Die Getränkeversorgung
erfolgt erfreulich zügig. Langsam finden wir es ganz gemütlich.
Am Tisch neben der Tür sitzen ein paar Basiskappen-Träger. Sie
schielen zu uns rüber und verschwinden gelegentlich vor die Tür.
Danach kommen sie gut gelaunt wieder herein. Irgendwann sind sie der Meinung,
daß von uns keine Gefahr ausgeht und sie rauchen ihre konischen Zigaretten
gleich am Tisch.
Durch die halboffene Küchentür ist eine Lebensmittelschlacht
zu beobachten. Die beiden Küchenfipse beschmeißen sich mit Tomatenscheiben
und Salami. Als ich das sehe, bin ich sicher: hier sind wir richtig!
Wir kommen mit einigen der vorhandenen Mägdelein ins Gespräch
und müssen natürlich gleich erzählen, was für tolle
Kerle wir sind. Als sie von unserer Tour hören, werden wir sehr bewundert.
Wie von Geisterhand wird unaufhörlich für Getränkenachschub
gesorgt, seit die Mädels mit am Tisch sitzen.
Wir sind gerade dabei in eine gewisse Hochstimmung zu gelangen, da will
die Kellnerin uns abkassieren. Waas, Schon vorbei?? Na so war das ja nicht
gedacht, es ist doch gerade mal 11 ?!? Es will sich gerade Enttäuschung
breit machen, da werden wir aufgeklärt. Ab jetzt ist alles umsonst.
Wir erfahren, daß der eigentliche Kneipenchef gerade in Südafrika
weilt. Solange der nicht da ist, führt seine Freundin hier das Kommando.
Und die ist der Meinung, daß heute mal die Sau herausgelassen werden
sollte.
Nun ist Polen offen!
Was jetzt herangeschleppt wird, ist nichtmehr zu erschlucken. So habe
ich mir das vorgestellt! Die ganze Kneipe ist am Feiern und läßt
es ordentlich krachen. Am Nachbartisch eskalieren die Trinkspiele. Es wird
sich nichtmehr die Mühe gemacht, den Wodka vor dem Trinken aus der
Flasche in ein Glas umzufüllen. Zeitverschwendung! Das Bier gibt es
mittlerweile im Wassereimer.
Carsten plätschert schon mit den Fingern im Hals. Roger hat ein
Papierschiffchen gefaltet und läßt es auf dem Biersee in Carstens
Schlund hin und herfahren.
Specki wird von einer wildgewordenen Polonaise gejagt. Auf seiner Flucht
rempelt er mich an und von dem Schwung rutsche ich auf den glatten Fliesen
bis in die Küche. Dort gerate ich ins Kreuzfeuer der Tomaten und Salamischeiben.
In meiner Angst davon zu ersticken, rudere ich wie wild mit den Armen.
Dabei haue ich den Dorfsheriff um, der sich gerade in der Küche eine
Tüte basteln wollte.
Der Rot-Kreuz Wagen wird gerufen. Der Sanitäter schließt
den Sheriff mit einem Überspielkabel an die Autobatterie an, was den
sofort wiederbelebt. Die beiden Küchenjungs wuchten sich jetzt Peitzer
Karpfen um die Ohren.
In der Gaststube ist gerade Marylin Manson eingetroffen. Er hält
sich für Karel Gott und will andauernd die Babitschka pimpern. Langsam
gerät die Veranstaltung etwas aus den Fugen.
Hinter der Theke boxt der Papst im Kettenhemd gegen den Dalai-Lama.
Dazu tanzt eine sorbische Volkstanzgruppe afrikanische Fruchtbarkeitstänze.
Langsam vermute ich, daß es das alles gar nicht wirklich gibt. Specki
klärt mich auf, daß das ganze nur zur Unterhaltung gedacht sei.
Zur Begrüßung der aufgehenden Sonne werden Böllerschüsse
gezündet, die das ganze Hotel in Schutt und Asche legen. Ich wache
in einem vollgekotzten Bett auf.
Freitag, der 03.September 98
Pec - Neustadt/Sachsen
Bevor wir uns um die Details der Heimreise kümmern, wird erst einmal
der Lebensmittelladen geplündert. Das Geschäft verlassen wir
jeweils mit einem personengebundenen Glas sauere Gurken und drei bis vier
Konterbieren pro Nase. Mann, war das gestern abend eine Veranstaltung!
Die Verbindungen von Pec in die Welt sind eher dürftig. So steigen
wir in den nächsten Bus der fährt, um überhaupt aus dem
Ort herauszukommen. Der Bus fährt nach Trutnov. Das ist zwar genau
die entgegengesetzte Richtung als wir hinwollen, doch wir hoffen von Trutnov
aus bessere Anschlüsse zu haben.
Wie schon weiter vorn bemerkt, bietet die Reise mit öffentlichen
Verkehrsmitteln die Möglichkeit, Alkoholika zu sich zu nehmen. Die
Rückfahrt entwickelt sich mit den Stationen Trutnov, Turnov, Liberec
und Decin zu einer verheerenden Angelegenheit. Den Ausschlag gibt dabei
sicherlich der Aufenthalt in der Liberecer Bahnhofs-Mitropa.
Bei einer Jause in der Ferkeltaxe (auch bekannt als Schienenbus, Blutblase,
u.ä..) führen wir einen Exzeß mit eingelegten Knoblauchzehen
durch. Dabei gleitet mit das Glas aus der Hand. Es zerschellt auf dem Fußboden.
Es stinkt so gemein nach Knoblauch, daß alle Mitreisenden fliehen
und wir daraufhin den ganzen Hänger für uns alleine haben.
Quitschvergnügt und nach Knoblauch stinkend kommen wir gegen 20
Uhr auf dem Bahnhof Bad Schandau an. Der Anschlußzug nach Neustadt
ist gerade weg und die nächste Bahn fährt erst in etwa drei Stunden.
Wir bemühen uns jemanden zu finden, der uns von Bad Schandau abholt.
Das ist anfangs von keinem großen Erfolg gekrönt. Erst als ich
bei meinen Eltern anrufe, läßt sich mein Vater nicht von unserem
Gelalle abschrecken. Er kommt uns abholen. Im Auto geben wir die erste
kurze Zusammenfassung der Tour. Unser knoblauchlastiger Atem schwängert
dabei die Luft im Wagen und wir können nur mit heruntergelassenen
Scheiben fahren.
Vom Erzählen bekommen wir einen trockenen Mund. Da es im Auto kein
Bier gibt, lassen wir uns am Purple Haze absetzen. Der Kreis schließt
sich, wir sind wieder am Ausgangspunkt der Tour. Bei unserem Eintreffen
gibt es erst einmal ein großes Hallo.
Wir sind gerade dabei auf die gelungene Expedition anzustoßen,
da macht Mikro den Vorschlag doch einmal bei Leo’s Geburtstagsfeier vorbei
zu schauen. Mikro hat noch zwei Plätze im Auto frei. Trotz unseres
mittlerweile nicht mehr ganz so brennenden Durstes, beschließen Carsten
und ich dorthin mitzukommen. Die Party findet in Leo’s Tischlerwerkstatt
statt. Die Gäste sind Fachleute für Alkoholgenuß, die allesamt
am Rad drehen. Die Szenen, die sich abspielen, erinnern an den Vorabend.
Für Carsten und mich ist es der Beweis, daß man nicht unbedingt
erst auf die Schneekoppe laufen muß, bevor man sich ins Koma trinkt.
An dieser Stelle halte ich es für angemessen, über diese Veranstaltung
den Mantel des Schweigens auszubreiten.
Den Sonntag schlafe ich durch. Auch am Montag passiert überhaupt nichts. Den Rucksack nehme ich erst am Dienstag wieder in die Hand und packe aus.